Loveparade in Duisburg: So lief das Drama wirklich ab: 60 Minuten bis zum Tod - DIE BEWEIS-FOTOS

Von: Von Daniel Böcking

Es sind Bilder, die Antworten geben auf so viele Fragen. Wie kam es zu dem Drama auf der Loveparade? Was geschah in den Minuten vor der tödlichen Tragödie mit 21 Toten und über 500 Verletzten? Warum ballten sich die Menschenmassen so fatal auf der Rampe? Und: Warum wollten alle zu dieser verdammten, schmalen Treppe – an deren Fuß 14 der Toten geborgen wurden?

Teaser-Bild
Foto: coremedia

BILD.de liegen Fotos vor, die das Geschehen auf der Todesrampe in der Stunde bis zur Panik dokumentieren. Auch diese Aufnahmen können nicht alles klären. Sie können nicht sagen, wer letztendlich die Verantwortung trägt. Doch zusammen mit Zeugenaussagen und den ersten Ergebnissen der Untersuchungen zeichnen sie ein dichtes Bild:

60 Minuten bis zum Tod – das Protokoll.

16.02 Uhr: Die Kamera, aus der die Aufnahmen stammen, steht am Süd-Ende der Zugangsrampe. Vorne links (Westen) und rechts (Osten) gehen die Ein- und Ausgangstunnel ab, die nicht mehr im Bild zu sehen sind. Die Kamera filmt die Rampe hinauf. Am oberen Ende beginnt das flache Party-Gelände. Diese Rampe war gleichzeitig Ein- und Ausgang. Unten links ist die Treppe zu sehen, an deren Fuß in einer Stunde das erste Todesopfer gemeldet wird. Im unteren Drittel hat sich eine Polizeikette formiert.

Laut Polizei hatte der Veranstalter um 15.30 Uhr um Hilfe gebeten, da der Ansturm immer größer wurde und sich oben an der Rampe ein Rückstau zum Partygelände gebildet hatte. Der Vorwurf der Polizei: Dieser Rückstau hätte nicht sein dürfen. Aber der Veranstalter habe es nicht geschafft, die Massen weiter auf das Gelände zu bewegen. Viele seien einfach stehen geblieben, um von hier die Parade zu verfolgen. Das Konzept, dass die Leute den gegen den Uhrzeigersinn fahrenden Party-Wagen folgen und sich somit von dem Rampenkopf entfernen, sei nicht aufgegangen.

Es sei vereinbart worden, so die Polizei, dass der Veranstalter den Rückstau oben auflöst und die Tunnelzugänge von außen schließt, sodass keine weiteren Menschen nachströmen. Gleichzeitig richtete die Polizei besagte Absperrung auf der Rampe ein. Ebenso sperrte die Polizei innerhalb der Tunnel die Durchgänge.

Der Veranstalter, Rainer Schaller (41), hatte vor den konkreten Vorwürfen der Polizei zu BILD.de gesagt: „Meiner Kenntnis nach ist die Polizei für die Sperrung und Öffnung von Notausgängen verantwortlich.“ Laut des „Bewegungsmodells“, das BILD.de vorliegt, hatte der Veranstalter in der Stunde von 16 bis 17 Uhr mit 55 000 neuen Besuchern gerechnet, die über diese Rampe hätten gehen sollen…

16.03 Uhr: Von oben (Partygelände) kommen immer mehr Menschen. Eine zweite Rampe im Westen (nicht im Bild), die ebenfalls als Ausgang hätte dienen sollen, wird kaum genutzt – die einen sagen, weil sie nicht als Ausgang ausgeschildert war, andere Zeugen berichten von ständigen Sperrungen der zweiten Rampe. Daher wird es auf der Hauptrampe trotz der Sperrung nicht leerer – im Gegenteil: Es kommen mehr und mehr Menschen hinzu, die die Loveparade verlassen wollen – aber nicht weiterkommen wegen der Sperrungen.

Der Zustrom von ankommenden Gästen scheint in diesen Minuten nicht allzu groß. Unklar, ob dies an den Polizeisperrungen IM Tunnel oder an der Schließung der Eingänge durch Ordner VOR den Tunneln liegt. Die Polizei sagt: Der Veranstalter habe um 15.46 Uhr die Schließung zwar angeordnet – sie sei aber von den Ordnern nicht umgesetzt worden. Die Polizeiketten seien um 15.44 Uhr (Ost-Tunnel) und um 15.45 Uhr (West-Tunnel) in Position gegangen. Ein BILD-Reporter ruft in diesen Minuten in der Redaktion an: „Ich stehe hier am Eingang. Es drücken unfassbar viele Menschen rein. Hier passiert gleich eine Katastrophe!“

16.08 Uhr: Die Bilder von der Rampe zeigen: Die Situation unten vor der Polizeikette wirkt relativ entspannt. Zu dieser Zeit kommen kaum noch neue Gäste durch die Tunnel. Die Absperrungen dort halten.

16.12 Uhr: Noch immer ist Platz im unteren Rampenbereich. Die Treppe, die in 50 Minuten zur Todesfalle wird, ist noch durch Gitter gesichert. Gleichzeitig herrscht in diesen Minuten an den Eingängen schon Chaos. Auf YouTube-Videos ist zu sehen, wie sich Menschenmassen drängeln. Später berichten einige sogar: „Hier muss es Tote gegeben haben. Leute stürzten und kamen nicht mehr hoch.“ Offiziell kam aber niemand IM Tunnel zu Tode.

16.16 Uhr: Womit niemand gerechnet hatte: Der größte Druck kommt jetzt von oben. Von Menschen, die sich auf den Heimweg machen wollen.

16.19 Uhr: Um 16.14 Uhr kam es in den Tunneln zum Durchbruch. Die Polizei muss sich in beiden Tunneln zurückziehen, weil der Druck zu groß wird. Kurz darauf erreichen die Massen die Rampe. Jetzt pressen die Menschen auch von unten gegen die Polizeiabsperrung auf der Rampe. Nur noch diese Absperrung trennt die Menschenmenge, die nach unten will, von der Menschenmenge, die nach oben zur Party will. Die Polizisten sind eingepfercht. Noch stehen die Schutzgitter links am Rand, die auch den Zugang zu der Treppe an der Wand verhindern.

16.24 Uhr – 38 Minuten bis zum Tod: Die Situation auf der Rampe wird dramatisch. Die ersten Absperrgitter rechts werden geöffnet. Menschen retten sich über Lichtmasten nach oben. Die Treppe ist noch abgesperrt.

16.29 Uhr: In diesen Minuten verliert die Polizei den Kampf auf der Rampe gegen die Menschenmassen. Eine Polizeikette ist nicht mehr zu erkennen. Am unteren Bildrand sieht man Beamte zusammenstehen. Laut Polizeibericht wurde die Sperrung um 16.40 Uhr aufgegeben. Inzwischen haben sich Dutzende hinter die Absperrungen gerettet, fliehen über die Lichtmasten.

16.47 Uhr – 15 Minuten bis zum Tod: Laut Polizei hatten Ordner um 16.31 Uhr einen Krankenwagen in den Tunnel auf der Westseite fahren lassen. Die Zufahrt sei nicht sofort wieder geschlossen worden. Im Gegenteil: Um 16.36 Uhr sei sogar noch ein weiteres Zaunstück entfernt worden. Augenzeugen bestätigen das. Immer mehr Menschen strömten nach. Da auch die Absperrung im Tunnel zusammenbrach, konnten die Massen auf die Rampe.

Die Lage ist jetzt außer Kontrolle. Tausende Menschen auf dem Weg nach draußen treffen auf der Rampe auf Tausende Menschen auf dem Weg zur Loveparade. Nichts geht mehr in keine der beiden Richtungen. Die Absperrungen sind gefallen. Die Treppe links am Rand ist gestürmt. Es gibt nur drei Wege nach oben: die Lichtmasten rechts am Rand, ein Baucontainer unten an der Rampe (nicht im Bild) – und eben diese Treppe. Die Polizei geht davon aus, dass ein Teil der Menschen über die Treppe fliehen wollte, ein anderer Teil wollte so schnell wie möglich auf das Partygelände.

Es herrscht Panik! Dennis (16): „Die Menschen fielen übereinander. Es gab keinen Ausweg. Es war ein Schreien und Flehen.“ Ein anderer Zeuge: „Männer schlugen auf Frauen, um irgendwie freizukommen.“ Christin (17) aus Dortmund: „Die Jungen wollten uns schützen, fassten sich an die Hände und bildeten einen Kreis um uns, aber es half nicht. Wir wurden zusammengequetscht. Dann fielen wir. Jemand stürzte auf meinen Hals, dann wurde ich ohnmächtig. Als ich wieder zu mir kam, zerrten Menschen an mir, wollten mich da rausholen. Auf meinen Beinen lagen zwei Tote.“

Auf Videos ist zu hören, wie noch immer Menschen am Rand lachen und singen. Nicht jedem ist klar, dass sich am Fuß der Treppe gerade eine Katastrophe abspielt.

17.02 Uhr Die ersten Opfer werden gemeldet. Später heißt es: Die umgerissenen Gitter auf dem Weg zur Treppe wurden zur Stolperfalle. Die Menschen stürzten und wurden eingedrückt. Alle Opfer starben an Brustquetschungen. Erstickt in der Menge.

Ein BILD.de-Reporter ist in diesen Minuten mitten im Chaos. Gemeinsam mit anderen Menschen bildet er eine Kette um die Gestürzten, ruft: „Keine Panik“. Gleichzeitig löst sich der Druck auf der Rampe nach oben auf, weil es dort keine Sperren mehr gibt. Aber kaum einer bekommt das mit. Alle sind auf die Treppe fixiert, strömen von allen Seiten auf dieses Nadelöhr, das der einzige Ausweg zu sein scheint, den sie von dort sehen können.

Wenige Minuten später sind weitere Reporter-Kollegen an der Unglücksstelle. Ich, der BILD.de-Reporter, erreiche die Todeszone 40 Minuten danach. Wir alle sehen diese grausamen Bilder, sind entsetzt, helfen, wo es noch etwas zu helfen gibt. Wir sprechen mit Zeugen, um zu begreifen und berichten zu können, was passiert ist. Seit diesem Moment recherchieren wir, wie es zu so einer Tragödie kommen konnte.

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Foto: coremedia