Katastrophe bei der Love Parade Fataler Schichtwechsel

Der Schichtwechsel bei der Duisburger Love Parade wird immer rätselhafter: Ursprünglich wollte die Polizei die Hundertschaft auf der Zugangsrampe um 14 Uhr austauschen. Doch vor der Parade wurde der Zeitpunkt um zwei Stunden nach hinten verschoben - mitten hinein in die kritische Einsatzphase.
Von Andrea Brandt, Jürgen Dahlkamp und Sven Röbel
Menschenmassen bei der Love Parade: Kaum Überschneidung der Hundertschaften

Menschenmassen bei der Love Parade: Kaum Überschneidung der Hundertschaften

Foto: Getty Images

Dieser Montag war mal wieder der Tag der Abwiegler - alles wie gehabt, wenn es um die Frage geht, wer für den Tod von 21 Menschen bei der Duisburger Love Parade am 24. Juli 2010 verantwortlich war. Kaum hatte der SPIEGEL in seiner aktuellen Ausgabe aus einem mehr als 400 Seiten starken Vermerk der Staatsanwaltschaft Duisburg berichtet, der zahlreiche mutmaßliche Fehler der Polizei auflistet, bemühten sich die Gewerkschaft der Polizei (GdP) und die Deutsche Polizeigewerkschaft auch schon um Entlastung.

Ein Schichtwechsel der Polizei am Nachmittag der Love Parade, von der Staatsanwaltschaft kritisch gesehen, habe nichts damit zu tun gehabt, dass es gegen 17 Uhr zu dem tödlichen Gedränge auf der einzigen Zugangsrampe kam, sagte GdP-Landeschef Frank Richter. Schließlich seien die neuen Kräfte zum Teil schon mehr als zwei Stunden vor der Massenpanik im Einsatzraum gewesen. Eine Darstellung, mit der die Polizeigewerkschafter allerdings auch gleich in die Selbstverteidigung gingen.

Denn die Staatsanwaltschaft Duisburg war bei ihren Ermittlungen auf einen Polizeivermerk gestoßen. Danach soll es eine "Berufsvertretung" gewesen sein, die angeblich vor der Love Parade im Düsseldorfer Innenministerium Druck gemacht hatte, um die Arbeitszeiten der Kollegen strikt zu begrenzen. Höchstens zwölf Stunden Einsatz mit An- und Abreise, so legte es daraufhin das Innnenministerium in einem Erlass fest.

Die Übergangszeit schmolz zusammen - auf wenige Minuten

Also lösten Kräfte der Kölner Hundertschaft die Kollegen von der Bielefelder Frühschicht auf der Rampe ab - schließlich hatte die ja einen mehrstündigen Heimweg vor sich. Doch dieses Rein und Raus war in der ursprünglichen Polizeiplanung nicht vorgesehen. Und mehr noch: Ein Einsatzführer hatte davor ausdrücklich gewarnt, weil die Polizei dann für zwei Stunden nur noch eingeschränkt handlungsfähig wäre.

Weitere Details aus dem im Januar verfassten Bericht der Staatsanwaltschaft sowie Videoaufnahmen einer Überwachungskamera belegen nun, dass der Schichtwechsel sehr wohl in der als kritisch eingeschätzten Zeit lag - diese Phase begann nämlich schon deutlich vor den Todesfällen auf der Rampe gegen 17 Uhr. Und: Der Wechsel ist anscheinend erst einen Tag vor der Love Parade nach hinten verschoben worden, in das riskante Zeitfenster hinein, als der Besucherandrang am größten war.

Wie die Videoaufnahmen belegen, rückte die Vierte Polizeihundertschaft aus Bielefeld am 24. Juli zwischen 15.27 und 15.30 Uhr mit ihren Autos von der Rampe ab. Erst kurz zuvor, von 15.15 Uhr bis 15.17 Uhr, war die "Fünfzehnte" aus Köln eingetroffen, um zu übernehmen: neben dem Aufgang zum Partygelände auch noch die Tunnelabschnitte der Karl-Lehr-Straße, die von zwei Seiten, von Ost und West, zur Rampe führte.

Waren in einer Präsentation der Polizei Duisburg im Innenministerium am 16. Juli noch Stundenpläne gezeigt worden, in denen sich die Dienstzeiten der beiden Hundertschaften um eine Stunde überlappen sollten, war die Übergangszeit nun auf wenige Minuten zusammengeschmolzen.

Die Videobilder zeigen bereits zu diesem Zeitpunkt eine Rampe voller Techno-Fans, die aufs Gelände wollen. Wie außerdem das Einsatz-Logbuch der Duisburger Polizei dokumentiert, war dort schon um 14.42 Uhr bekannt, dass sich ein Stau am oberen Rand der Rampe gebildet hatte. Deshalb ging es für die Raver auf der Rampe kaum noch nach oben, während andere von hinten nachdrängten. Dass es in den letzten zwei Stunden vor der Abschlusskundgebung so aussehen könnte, kann die Polizei auch nicht völlig überrascht haben.

Der Einsatzbeginn wurde geändert - einen Tag vor der Katastrophe

Bereits bei einem Termin im Innenministerium am 16. Juli, so geht aus einer Powerpoint-Präsentation für diesen Tag hervor, hatte die Duisburger Polizei ein mögliches "Massenproblem" ausgemacht und die "Folgen gefüllter Veranstaltungsflächen und -wege" diskutiert. Gleichwohl kam es am Tag der Love Parade nun zum umstrittenen Schichtwechsel.

Dazu schrieben die ermittelnden Staatsanwälte in ihrem Zwischenbericht, dass noch in der Planungsphase die "vollständige Übernahme der Aufgaben" durch die Fünfzehnte Hundertschaft für 14 Uhr vorgesehen gewesen sei.

Als Beleg dafür verweisen sie in ihrem Vermerk auf die Aussage eines Hundertschaftsführers der "Fünfzehnten". Demnach liegt der Einheit ein Befehl vor, gespeichert am 21. Juli 2010, aus dem sich als Anfangszeit 14 Uhr ergeben soll. Doch durch einen weiteren Befehl, gespeichert am 23. Juli, habe sich das dann geändert: neuer Einsatzbeginn 16 Uhr.

Noch bis in den Januar hinein, als die Staatsanwaltschaft ihren Bericht erstellte, konnten die Ermittler nicht klären, wer die Verschiebung angeordnet hatte. Dass die "Fünfzehnte" dann wenigstens schon um 15.17 Uhr auf der Rampe stand und nicht erst um 16 Uhr, war offenbar nur dem unguten Gefühl von Thorsten M. zu verdanken, dem Führer der Hundertschaft am Tag der Love Parade.

In seiner Vernehmung sagte er aus, er habe - gegen die Vorgabe aus dem Einsatzbefehl - die Entscheidung getroffen, schon um 15 Uhr im Einsatzraum zu erscheinen, um eine "ordnungsgemäße Auftragsübernahme gewährleisten zu können", wie die Staatsanwaltschaft ermittelte.

Eine Summe von Fehlern führte zur Katastrophe

Doch auch so habe sich die neue, spätere Meldezeit schon als "unglücklich" erwiesen, so Thorsten M. "Zur ursprünglichen Meldezeit um 14 Uhr" sei die Lage im Bereich der "Fünfzehnten" nämlich noch ruhig gewesen; sie habe sich erst gegen 15 Uhr verschärft. Deshalb seien seine Kräfte nach 15 Uhr in einen durch eine erhebliche Anzahl von Besuchern "belegten Einsatzraum" gekommen und hätten hier ihre Aufträge übernehmen müssen. Das habe zur Konsequenz gehabt, dass nicht genug Zeit geblieben sei, sich im Einsatzgebiet zu orientieren und "vor die Lage" zu kommen.

Erst recht, weil wegen der ständig wechselnden Situation unverzüglich die Aufträge hätten angepasst werden müssen, quasi aus dem Stand. Zwar zeigte sich M. überzeugt, dass sich selbst bei einer früheren Meldezeit für die "Fünfzehnte" das Drama auf der Rampe nicht hätte verhindern lassen. Allerdings musste seine ohnehin gehandicapte Truppe gleichzeitig noch mit zahlreichen anderen Problemen fertig werden.

Etwa, dass die Zahl der Polizisten im riskantesten Einsatzabschnitt nicht ausreichte, wie die Staatsanwaltschaft feststellte. Dass der Veranstalter keine funktionierende Lautsprecheranlage für Polizeidurchsagen bereitstellte, was Polizisten allerdings erst am Tag der Love Parade gegen 14 Uhr merkten. Vor allem aber kamen noch die Verständigungsprobleme hinzu: Wie M. berichtete, war die Kommunikation über Handy zumindest nach seinen Feststellungen in der Zeit "von etwa 15.30 Uhr bis 18 Uhr" nicht möglich, weil sich beim Wählen keine Verbindung aufgebaut habe. Auch sein Versuch, mit dem Telefon eines Untergebenen durchzukommen, sei gescheitert.

Die gleichen Probleme habe er bei seinem eigenen Vorgesetzten an diesem Tag beobachtet, dem Abschnittsleiter für Rampe und Tunnel, Polizeirat Dirk H. Etwa ab 16 Uhr will Thorsten M. schließlich auch über Funk nur noch in Einzelfällen Kontakt bekommen haben, später für einen längeren Zeitraum dann gar nicht mehr. Dass allein der Schichtwechsel in der heißen Phase zum Tod von 21 Menschen im Gedränge geführt hätte, behauptet die Staatsanwaltschaft in ihrem Vermerk daher auch nicht.

Es handelt sich nach ihrer vorläufigen Bewertung um eine Summe von Fehlern, nicht nur bei der Polizei, sondern auch beim Veranstalter Lopavent und bei der Stadt Duisburg, die die Love Parade genehmigt hatte.

Eine Entlastung, wie sie sich die Polizeigewerkschafter offenbar herbeiwünschen, bieten die Ermittlungserkenntnisse allerdings nicht. Dass der Schichtwechsel beim Multi-Versagen, das zur Katastrophe führte, keine Rolle gespielt habe, lässt sich dem Zwischenbericht nämlich nicht entnehmen. Vielmehr sorgt er für eine weitere brisante Frage: Warum hat die Polizeiführung die Frühschicht-Beamten aus Bielefeld überhaupt abrücken lassen - zu einem Zeitpunkt, als längst klar war, dass die Situation auf der Rampe eskalierte?

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