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Die Loveparade-Katastrophe von Duisburg Ein Tunnel und tausend Fragen

Wie konnte der Tunnel zur tödlichen Falle werden? Das Loveparade-Drama von Duisburg wirft quälende Fragen auf. Vieles deutet auf eine Verkettung von Fehlentscheidungen hin. Eine Spurensuche.
Von Manuela Pfohl

Immer wieder hat Tobias Wehrkamp versucht rational zu sortieren, was er am Samstag bei der Loveparade in Duisburg erlebte: Polizisten, die einen Toten an ihm vorbeitragen, Frauen, die am ganzen Körper bluten, Schuhe, Taschen, Dreck, ein fürchterliches Durcheinander, Sirenengeheul. Doch der 18-Jährige scheitert an den grauenhaften Bildern in seinem Kopf. Und er sagt: "Ich bin schockiert und empört über die Fehlplanung vor Ort." Der Student aus Oldenburg ist überzeugt, dass das Drama Loveparade hätte verhindert werden können, wenn minimale Sicherheitsstandards eingehalten worden wären. Wehrkamp: "Es ist ein Unding, wenn die so genannten Krisenexperten behaupten, dass der Tunnel geeignet gewesen wäre, und die Toten nur durch die Kletteraktionen und irgendwelche Abstürze entstanden seien."

Gab es ein angemessenes Einsatzkonzept?

Eine Kritik, mit der er nicht allein steht. Der Verdacht, dass möglicherweise 20 Menschen nur deshalb gestorben und mehr als 500 Menschen nur deshalb verletzt worden sind, weil es bei der Planung der Loveparade eklatante Fehler gab, steht seit Samstagabend im Raum - genauso wie der Vorwurf, dass die Mängel schon vor der Veranstaltung bekannt gewesen seien. Die zentrale Frage, die die Staatsanwaltschaft in Duisburg nun beantworten muss, lautet: Wie konnte es zu dem Drama am Tunnel zum Loveparade-Gelände kommen?

Glaubt man den Aussagen diverser Augenzeugen wurde der Eingang zur Partymeile hinter dem Tunnel am frühen Samstagabend geschlossen, obwohl weiterhin ungebremst Besucher durch den Tunnel auf das Gelände strömten. Drängend ist auch die Frage, ob das Einsatzkonzept für die Veranstaltung angemessen war. Und wenn nicht, warum hat die Genehmigungsbehörde dann trotzdem grünes Licht gegeben? Und warum hielt Oberbürgermeister Adolf Sauerland (CDU) daran fest?

Der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, erklärte: "Ich habe schon vor einem Jahr gesagt, dass die Stadt zu eng ist für eine derartige Großveranstaltung." Er glaube, dass Duisburg sich übernommen habe, meint Wendt: "Das war einfach eine Nummer zu groß." Die Zugangswege zu dem Gelände seien "offensichtlich für diese Menschenmassen ungeeignet" gewesen, kritisierte Wendt, der gebürtiger Duisburger ist. Und auch Deutschlands führenden Konzertveranstalter Marek Lieberberg meint, das Konzept eines einzigen Ein- und Ausgangs über den Tunnel sei "eine Todesfalle" gewesen. Sämtliche Grundlagen für Versammlungen seien missachtet worden. "Ein einziger Eingang über einen Tunnel ist nach der Gesetzeslage eigentlich überhaupt nicht zulassungsfähig. Der Ordnungsdienst hätte die Besucherströme leiten müssen."

Wann also wurde der Tunnel geschlossen und sind Menschen abgehalten worden, da hinein zu gehen?

Auch Tim Sachs aus Dillenburg meint: "Wir konnten den Tunnel gegen 17.15 Uhr gut durchqueren, die Katastrophe ereignete sich jedoch nicht im Tunnel an sich, sondern hinter dem Tunnelausgang auf dem Weg zum Gelände hoch. Hier schloss die Polizei den Zugang zum Gelände, da es angeblich voll sei." Diese Aussage wird von der Polizei am Samstag um 17.32 Uhr scheinbar bestätigt. Denn in einer Pressemeldung heißt es: "Das Veranstaltungsgelände ist zurzeit wegen Überfüllung geschlossen. Die Polizei gibt über Lautsprecher Hinweise an die Teilnehmer und bittet sie, zurück in Richtung Hauptbahnhof zu gehen." Einen Tag später allerdings will die Polizei von einer Sperrung hinter dem Tunnel nichts mehr wissen. In der Erklärung von Staatsanwaltschaft und Polizei steht: "Zu keiner Zeit hat die Polizei den Zugang am oberen Ende der Rampe gesperrt."

Tim Sachs befand sich mit seiner Freundin zu diesem Zeitpunkt genau zwischen dem Tunnelausgang und der vielbeschriebenen kleinen Treppe. Er erlebte den "Stau" der Menschen hautnah und sagt, er könne nicht nachvollziehen, warum trotz der Sperrung weiter Menschen durch den Tunnel gelassen wurden. Sachs: "Da die Sicherheitskontrolle bereits etliche hundert Meter vor dem Tunnel war, lässt sich daraus schließen, dass keine oder zumindest eine unzureichende Kommunikation bei den Ordnungskräften herrschte. Bei richtiger Absprache hätten keine Leute mehr in den Tunnel geschickt werden dürfen." Dringend nötig wäre gewesen, dass lange vor dem "Nadelöhr" Tunnel durch Polizei oder Ordnungskräfte Sperren errichtet worden wären, die verhindern, dass die Menschenmassen in den völlig überfüllten Tunnel strömen.

Loveparade-Chef Rainer Schaller macht konkrete Vorwürfe: So habe die Polizei die Anweisung gegeben, alle Schleusen vor dem westlichen Tunneleingang zu öffnen. Zuvor habe man bis 14.00 Uhr zehn der 16 Schleusen geschlossen gehalten, weil bereits eine Überfüllung des Tunnels drohte. Dann aber sei der Hauptstrom der Besucher unkontrolliert in den Tunnel geströmt. Warum die Polizei diese Anweisung gegeben habe, wisse er nicht.

Eine Behauptung, die sich mit der Aussage eines Polizisten deckt, der gegenüber stern.de erklärte, dass die Beamten im Tunnelbereich gegen 16.15 Uhr die Meldung bekamen, dass die Schleuse, polizeideutsch "Vereinzelungsanlage" genannt, an der Westseite überrannt worden sei. Etwa 20 Minuten später hätten Einsatzkräfte den Auftrag erhalten, als "Wellenbrecher" im Tunnelbereich zu arbeiten. Spätestens zu diesem Zeitpunkt muss also klar gewesen sein, dass die Situation im Tunnel eskalierte.

Wurden die Menschen davon abgehalten, in den überfüllten Tunnel zu drängen?

Warum angesichts dieser Situation nicht schon weiträumig vor dem Tunnel der Zustrom geregelt wurde, kann auch Michael Weber nicht verstehen. Er kritisiert, es habe vor den bekannten Engstellen zumindest keine wirkungsvollen Einrichtungen gegeben, die den Zustrom bremsten. Der 43-jährige Duisburger meint: "Kurz nach der Kreuzung Düsseldorferstraße/ Karl-Lehr Straße hätte es eine Schleuse wie vor jedem Skilift geben müssen, die die Menge auf 70 Prozent der Durchgangsbreite des Tunnels und der Rampe geschleust hätte. Die Menschen wären dann von Absperrgittern in der Mitte der Engstellen gehalten worden und links und rechts dieser "Gangway" hätte es Rettungswegen in je 15 Prozent der Durchgangsbreite geben können. Weber: "Derartige Systeme habe ich auch schon auf anderen Konzerten gesehen. Wäre dann dort an den Seiten der Menschen Rettungs- und Sicherheitspersonal gewesen, wäre nie eine Panik ausgebrochen, niemand hätte hochklettern können/brauchen und kreislaufgeschwächten Besuchern hätte über die Seitenwege geholfen werden können. Der "Stau" der Massen wäre dann in den offenen Straßen gewesen."

Hat die Polizei die Besucherströme geleitet?

Genau das passierte offenbar nur unzureichend. Zwar behaupten Polizei und Staatsanwaltschaft in einer gemeinsamen Erklärung, die Polizei habe "den für das Gelände zuständigen Veranstalter bei der Regelung des Personenzuflusses unterstützt" und der Zuschauerzustrom sei "auf den Wegstrecken vor dem Veranstaltungsgelände mehrfach an den dafür vorgesehenen Punkten durch die Polizei gestoppt worden". Doch Augenzeugen, wie Michael Weber schildern: "Selbst in der Zeit nach dem Unglück zwischen 17:30 und 18.00, also lange nach der Sperrung des Geländes, strömten noch Massen, darunter ich mit meiner Familie, ungehindert an den auf den Straßen herumstehenden Polizisten und Rettungskräften vorbei, durch das Dellviertel bis auf die Kreuzung Karl-Lehr-Straße/Düsseldorfer Straße. Keiner der vielen herumstehenden Polizisten und Rettungskräfte warnte oder hinderte uns oder andere die wir sehen konnten vor dem Weitergehen."

Kommunizierten Sicherheits-, Ordnungs- und Rettungskräfte optimal miteinander?

Dass es möglicherweise eine unzureichende Einsatzkoordination gab, deutet gegenüber stern.de ein Polizist an, der selbst vor Ort war, aber anonym bleiben möchte. Er behauptet, der ganze Einsatz sei "fragwürdig organisiert" worden. Es habe "keine wirklich einheitliche Einsatzleitung gegeben, sondern lediglich Telefonkonferenzen zwischen Polizei, Rettungsdiensten und Stadt". Für die mehrfach geäußerte Behauptung, dass es schon vor der Veranstaltung Bedenken wegen des Tunnels gab, könnte sprechen, dass nach seiner Aussage kurzfristig Einsatzkräfte, die ursprünglich für einen Zivileinsatz auf dem Gelände vorgesehen waren, schließlich als sogenannte "Wellenbrecher" und Eingreiftruppe auf dem Zuführungsweg am Tunnel eingesetzt wurden.

Machte die Bauaufsicht für die Loveparade eine Ausnahme?

Tatsächlich scheint es seitens der Stadt zumindest eine fragwürdige Entscheidung in Sachen Verkehrsplanung gegeben zu haben. "Spiegel Online" beruft sich auf ein Schreiben der Duisburger Bauaufsicht an die Organisatoren der Loveparade, die Berliner Lopavent GmbH. Das Schriftstück vom 21. Juli 2010 mit dem Aktenzeichen 62-34-WL-2010-0026 trage den Titel "Genehmigung einer vorübergehenden Nutzungsänderung". Der Sachbearbeiter der Unteren Bauaufsicht im Duisburger Amt für Baurecht und Bauberatung habe darin die Organisatoren von der Vorschrift befreit, die vorgeschriebenen Breiten der Fluchtwege einhalten zu müssen. Gleichzeitig hätten die Beamten auf Feuerwehrpläne verzichtet.

Asa Sefarin, die sich mit ihren Freunden ebenfalls im Gedränge zum Festgelände befand, machen die Aussagen und auch die Ausflüchte der Organisatoren wütend. Die Eindrücke des Dramas Loveparade zu verarbeiten, wird lange brauchen. Die 20-jährige Dillenburgerin sagt: "Ich habe mitbekommen, wie hinter mir ein 18-jähriges Mädchen weinte, weil sie Angst hatte, dass ihr was passiert, da sie einen kleinen Jungen zu Hause hatte. Dieses Mädchen kletterte plötzlich mit Hilfe ihres Freundes an meinem Rücken hoch, um von der Menge zur Treppe getragen zu werden. Kurz vor der Treppe versank sie plötzlich, weil keiner sie halten konnte, vielleicht, weil jeder an sein eigenes Wohl dachte oder vielleicht weil wirklich keiner mehr die Kraft dazu hatte, ich hab sie nicht mehr gesehen, hoffe sehr, es geht ihr gut."

Asa Sefarin will, dass die dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Doch der ermittelnde Staatsanwalt bremst die Erwartungen. Zwar hatte die Duisburger Staatsanwaltschaft am Sonntag das Sicherheitskonzept der Veranstalter und der Stadt beschlagnahmt. Doch mit einem Ergebnis sei nicht so bald zu rechnen, heißt es.

"Das wird Wochen, wenn nicht Monate dauern", sagt Staatsanwalt Rolf Haferkamp. Es müssten viele Zeugen befragt werden, die auch erst ausfindig gemacht werden müssten. "Wir werten auch Fotos und Videos aus." Zudem würden zahlreiche Unterlagen überprüft. Die Staatsanwaltschaft ermittelt nach Angaben Haferkamps zunächst gegen Unbekannt wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Körperverletzung. Es gehe darum herauszufinden, ob Entscheidungen getroffen worden seien, die zu Todesopfern geführt hätten. Nach Behördenangaben liegen zwei Strafanzeigen vor. Laut "Bild" will der ehemalige Bochumer Polizeipräsident Thomas Wenner den Duisburger Oberbürgermeister Adolf Sauerland (CDU) anzeigen. Der Onlineausgabe der "Bild-Zeitung" sagte Wenner: "Ich zeige den Oberbürgermeister der Stadt Duisburg, die leitenden Beamten der Stadt und die Veranstalter an." Eine solche Veranstaltung sei in Duisburg nie realisierbar gewesen. Wenner hatte 2009 als amtierender Polizeipräsident die für Bochum geplante Loveparade abgesagt.

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