Das letzte Bild von Kathinka Tairi ist kurz vor dem Unglück aufgenommen worden. Sie trägt darauf ein weißes Sommerkleid über rosa Leggins und eine Blumengirlande um den Hals. Die blonden Haare sind kunstvoll nach oben geflochten. Die hübsche junge Frau posiert, streckt der Kamera lächelnd die Zunge heraus. Kurz danach war Kathinka tot. Erdrückt in der Menge von jungen Menschen, die wie sie gekommen waren, um das Leben und sich selbst zu feiern – auf der Loveparade in Duisburg am 24. Juli 2010.
„Pass auf dich auf“, hatte Annette Tairi am Morgen zu ihrer Tochter gesagt. Was man als Mutter eben so sagt. Sie war nicht gerade glücklich darüber, dass ihre Tochter schon wieder loszog. Zwei Tage zuvor war die 19-Jährige erst aus einem Urlaub mit ihrem Freund zurückgekehrt. „Lass es doch mal ruhiger angehen“, hatte die Mutter gemahnt. Doch Kathinka war nicht aufzuhalten. Wie fast immer: Sie wollte das Leben auskosten.
Ein Fotoalbum liegt auf dem Tisch des in warmen Farben gehaltenen Wohnzimmers. Fast auf allen Bildern scheint Kathinka in Bewegung zu sein. Sie strahlt, macht Faxen, umarmt Freundinnen. Nichts genoss das Mädchen mehr, als mit seiner Clique zu feiern und zu tanzen.
Und es probierte vieles aus – ob Bungee-Jumping oder Fallschirmsprung. „Ich bin ja eher ein ängstlicher Typ“, sagt ihre Mutter. In den Tunnel auf dem ehemaligen Güterbahnhofsgelände, der für 21 Besucher der Technoparty zur Todesfalle wurde, hätte sie niemand hineinbekommen.
Seit einem Jahr trägt Annette Tairi nur noch Schwarz
Ihre Tochter hingegen – das konnte Annette Tairi später auf einem Überwachungsvideo sehen – ist hineingetanzt, dem Tod entgegen. Kathinka hatte gerade das Abitur geschafft. Einen Monat nach der Loveparade hätte sie eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin beginnen sollen, wollte später noch Medizin studieren.
Früher hat Annette Tairi bunte Farben geliebt. Seit einem Jahr trägt die 49-Jährige nur noch Schwarz. Ihre braunen Augen wirken durch die Trauer besonders dunkel. Um den Hals hängt an einer Kette ein silberner Schutzengel neben einem schwarzen Herz. Kathinka war das einzige Kind, lebte noch im Haus ihrer Mutter und Großmutter in einem Vorort von Mainz. Vom Vater war Annette Tairi schon vor der Geburt des Mädchens getrennt.
Im Kopf ist Annette Tairi viele Male jenen Tag durchgegangen. War etwas anders? Hätte sie Kathinka aufhalten können? Am Nachmittag des Unglückstags war die gelernte Erzieherin gerade bei einem Verwandten zum Krankenbesuch, als sie gegen 16.30 Uhr einen seltsamen Druck auf der Brust spürte. Sie wischte das Gefühl weg. Später stand sie in einem Laden, hörte im Radio die Nachricht, es habe auf der Loveparade ein Unglück gegeben. Sie versuchte, ruhig zu bleiben.
Das Handy der Tochter war aus, die Notfallnummer, die im Fernsehen gezeigt wurde, ständig besetzt. Irgendwann rief sie die Eltern von Kathinkas Freund an. Von ihnen erfuhr sie, dass sich der Sohn kurz zuvor gemeldet hatte: Kathinka sei tot.
Da tat Annette Tairi das Einzige, was man tun kann, um die schreckliche Erkenntnis aufzuhalten: Sie weigerte sich, die Nachricht zu glauben. Bei der Polizei und der Notfallnummer konnte man ihr nicht weiterhelfen. Das Chaos war groß, die Verletzten und Toten noch nicht alle identifiziert.
Am Morgen standen Polizei und Notfallseelsorge vor der Tür
Irgendwann ging sie dann ins Bett, klammerte sich an die Hoffnung, ihr Kind läge irgendwo verletzt im Krankenhaus. Erst als am nächsten Morgen um sieben Uhr die Polizei, die Notfallseelsorgerin und eine Trauerbegleiterin vor der Haustür standen, wusste sie, dass das Undenkbare geschehen war. Einen Tag später fuhr sie nach Duisburg. Dort gab ihr die Polizei den rosa Stoffbeutel, den Kathinka auf der Loveparade bei sich trug. Die Digitalkamera der Tochter lag darin – mit dem letzten Foto von ihr.
Wie soll man weiterleben, wenn einem das Kind, die Zukunft, der Sinn genommen wird? Annette Tairi hat es lange nicht gewusst: „Damals dachte ich, alles bleibt stehen.“ Sie fing an, pausenlos zu rauchen. Sie hat Briefe an die tote Tochter geschrieben, doch der Schmerz blieb unerträglich.
Oft hoffte sie, dass Kathinka sie „zu sich holen“ würde. Als es gar nicht mehr auszuhalten war, ging sie in eine Trauma-Klinik nach Dresden. Vier Wochen hat es gedauert. Dann hatte Annette Tairi akzeptiert, dass es weitergehen wird. Irgendwie.
Die Großmutter ist zum Gespräch dazugekommen. Vor vier Jahren ist ihr Mann gestorben. Kathinka hatte sehr am Großvater gehangen, mit dem sie in einem Haus aufwuchs. Manchmal stellt sich Annette Tairi vor, dass der Opa das Mädchen „abgeholt“ hat, heraus aus der Panik und der Enge auf der Rampe, in deren Richtung die Menschenmasse panisch drängte: „Dass sie tot ist, hat sie bestimmt erst gar nicht kapiert.“
Bei einem Treffen der Angehörigen der Opfer sagte ein Unfallchirurg, in der Todesangst schalte der Verstand ab, man verfalle in eine Schockstarre. Der Gedanke hat Annette Tairi erleichtert. Wie viele der Angehörigen hat sie nach dem Unglück das Internet nach Bildern der Loveparade, nach Aufnahmen von ihrer Tochter, durchsucht.
Als ob sie noch ein Stück von ihr in der hiesigen Welt wiederfinden und festhalten könnte. Sie hat sich von Kathinkas Freund die letzten Minuten schildern lassen: Wie sie im Gedränge voneinander getrennt wurden und wie er sie wiederfand, im Stehen eingekeilt zwischen Körpern, den Kopf nach vorne hängend, die Lippen ganz blau.
Kathinka starb durch zu hohen Druck auf Brustkorb und Hals
Wie er versuchte, sie zu reanimieren, vergeblich. Auch den Obduktionsbericht las Annette Tairi. Sie weiß jetzt, dass die Tochter äußerlich keine Verletzungen hatte. Sie ist an „kompressibler Asphyxie“ gestorben – Sauerstoffmangel durch zu hohen Druck auf Brustkorb und Hals.
Wenn sich am 24. Juli 2011 das Unglück zum ersten Mal jährt, werden sich die Angehörigen der Opfer in einem Hotel in Duisburg treffen. Um gemeinsam zu trauern und um den Tag zu überstehen. Vor wenigen Tagen hat sich der Duisburger Oberbürgermeister Adolf Sauerland bei den Angehörigen entschuldigt.
Fast ein Jahr brauchte er, um sich zu dieser Geste durchzuringen. Zu lang für viele, auch für Annette Tairi: „Es wäre wichtig gewesen, dass die Verantwortlichen zeigen, wie untröstlich sie sind – für uns wäre das wie ein Beistand gewesen.“ Einmal kam einer von der Stadtverwaltung zu einem Angehörigen-Treffen. „Aber der hat dann vor allem von sich erzählt, etwa, dass er Drohungen erhalten hat“, erinnert sich Annette Tairi: „Als ob uns das als Angehörige interessieren würde.“
Noch ist die Schuldfrage ungeklärt. Der Veranstalter, die Lopavent, die Stadt Duisburg und die Polizei schieben sich gegenseitig die Verantwortung dazu. In einem Vermerk der Staatsanwaltschaft ist von 16 Beschuldigten die Rede, die aus allen drei Bereichen kommen.
Sauerland und der Veranstalter der Loveparade, Rainer Schaller, sind bisher nicht darunter. Wer am Ende für die Katastrophe einstehen muss, wird wohl erst ein mehrjähriger Strafprozess klären. Ermittelt wird wegen fahrlässiger Tötung und gefährlicher Körperverletzung. Die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft umfassen bereits mehr als 20.000 Seiten, beim Amoklauf in Winnenden waren es 15.000.
Thomas Kämmer ist der Opferbeistand von Annette Tairi. Er hat unter anderem die Opfer beziehungsweise ihre Angehörigen nach dem Einsturz der Eishalle von Bad Reichenhall vertreten. Nach dem Loveparade-Unglück war Kämmer der Erste, der die Einrichtung eines Opferhilfefonds gefordert hatte, der kurz danach auch eingerichtet wurde.
Sowohl der Veranstalter als auch das Land Nordrhein-Westfalen stellten zunächst je eine Million Euro zur Verfügung. Es ist das erste Mal, dass sich eine Landesregierung an einem solchen Fonds beteiligt. Für Angehörige wie Annette Tairi war dies eine große Erleichterung: „Wenigstens um das Finanzielle mussten wir uns in dieser Situation keine Gedanken mehr machen.“
Als nächsten Schritt fordert der Jurist Kämmer nun die Einrichtung einer Vermittlungskommission bis zum Jahresende, finanziert von der Landesregierung. Sie soll nach seinen Vorstellungen von mindestens zwei unabhängigen und renommierten Mediatoren geleitet werden und aus dem Veranstalter, dem Oberbürgermeister sowie Vertretern der Versicherer der Stadt Duisburg und des Veranstalters, Repräsentanten der Landes und Vertretern der Hinterbliebenen und der Überlebenden bestehen.
Kampf um Schadenersatz und Schmerzensgeld
Ziel sei es, alle Schadenersatz- und Schmerzensgeldforderungen außergerichtlich zu klären. Damit würde den Angehörigen und Überlebenden, von denen einige aus dem Ausland stammen, ein jahrelanger Zivilprozess erspart: „Ein solches Verfahren würde für die Opfer eine fortgesetzte Ohnmacht bedeuten“, sagt Kämmer.
Die zwischen der Axa-Versicherung und der Stadt im Mai getroffene Vereinbarung über eine Entschädigung für die Opfer bezeichnet Kämmer als „Versuch, eine wirklich angemessene Entschädigung zu vereiteln“.
Beim Strafprozess um die Schuldfrage wird Annette Tairi offiziell als Nebenklägerin dabei sein. Sie will im Detail nachvollziehen können, was damals passiert ist: „Das bin ich meiner Tochter schuldig“, sagt sie. Außerdem kämpft sie für den Erhalt der sogenannten „Todestreppe“.
Eigentlich sollte sie abgerissen werden, weil dort ein Möbelhaus entstehen soll. So hatte es der Investor geplant, der das Gelände schon vor der Loveparade erworben hatte. Gemeinsam mit anderen Angehörigen hat Annette Tairi eine Petition dagegen unterschrieben und selbst noch einmal einen Brief an die Stadtverwaltung verfasst.
Der Ort, an dem ihre Kinder, Enkel oder Partner starben, dürfe nicht einfach aus dem Stadtbild getilgt werden. Das offizielle Mahnmal, das kürzlich eingeweiht wurde, sei dafür kein Ersatz.
Trost gibt Annette Tairi die Vorstellung, dass aus dem Unglück Lehren gezogen werden. Weil dann vielleicht anderen Eltern jene Hölle erspart bleibt, durch die sie gerade gehen muss. Noch sind es wenige Momente, in denen die Fragen und der Schmerz ein wenig nachlassen.
In denen Annette Tairi, wie sie es sagt, die Dinge „besser trennen kann“. Und auch einmal darüber nachdenken kann, dass sie demnächst wieder anfangen will zu arbeiten. Oder darüber, dass sie nach dem Jahrestag vielleicht etwas anderes anziehen wird als Schwarz. Nichts Helles, aber etwas in gedeckten Farben.
Auf der Kamera ihrer Tochter, die in der rosa Tasche lag, war noch ein weiteres Bild. Es ist um 17 Uhr aufgenommen. Zu diesem Zeitpunkt war Kathinka schon tot. Wahrscheinlich hat der Druck auf die Tasche die Aufnahme aufgelöst. Das Bild ist vollkommen schwarz.